Die neue Lust am Wohnen

In den vergangenen neun Monaten sind die eigenen vier Wände für die meisten zum Zentrum des Lebens geworden. Das wird sich so schnell auch nicht ändern – „New Homing“ lautet daher die Devise.
Die neue Lust am Wohnen
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In den vergangenen neun Monaten sind die eigenen vier Wände für die meisten zum Zentrum des Lebens geworden. Das wird sich so schnell auch nicht ändern – „New Homing“ lautet daher die Devise. Selten zuvor haben wir so viel Zeit in den eigenen vier Wänden verbracht wie seit März. Parallel dazu erfüllen diese nun in den meisten Fällen deutlich mehr Funktionen – es wird daheim gewohnt, gekocht, entspannt, aber auch gearbeitet und gelernt. Gleichzeitig sind durch den Lockdown und den intensiven Aufenthalt daheim die Schwächen der jeweiligen Wohnung und Wohnform deutlich spürbar geworden. „Dementsprechend ist auch das Bewusstsein für bestimmte Wohnaspekte gestiegen“, sagt Architekturpsychologe Harald Deinsberger-Deinsweger. 

Man gönnt sich mehr 

Der intensive Aufenthalt daheim ist auch für Alfred Maierhofer, Geschäftsführer von Wohndesign Maierhofer, der Grund für den Veränderungswillen. „Wir erleben nicht ganz freiwillig eine Renaissance des Biedermeiers. Der Wohnraum wird mehr genutzt, daher gönnt man sich etwas“, ist er überzeugt. An der Spitze jener Räume, in denen die Bewohner Veränderungsbedarf sehen, sieht er das Wohn- und Esszimmer sowie die Küche. Stefan Grünbeck von Grünbeck Einrichtungen registriert einen regelrechten Boom bei Klein- und Mitnahmemöbeln. Aber auch Komplettlösungen und grundlegende Veränderungen der Räume sind als Folge des intensiven Aufenthalts daheim gefragt. „Wer nur wenig Zeit daheim verbringt, ändert meist nur Kleinigkeiten. Ist man viel daheim, geht man das große Ganze an“, sagt Grünbeck. 

Qualität steht dabei im Vordergrund. „Die Kunden wollen sich etwas Gescheites gönnen und dabei ein gutes Gefühl haben“, sagt Maierhofer. Diese wirkt sich auch auf die Preise aus, die, so Maierhofer, im kommenden Jahr steigen werden. Dies zum einen bedingt durch die starke Nachfrage, zum anderen dadurch, dass bei den Herstellern durch den coronabedingten Aufwand Mehrkosten entstünden.
Für die Lust auf Veränderung ist allerdings nicht nur die Optik ein Grund, sondern auch die Psyche, die durch Lockdown und Home-Office leidet. „Jeder Mensch braucht ein stimulierendes Umfeld. Die Wohnung bietet auf Dauer jedoch zu wenig Stimuli“, sagt Deinsberger-Deinsweger. Zu erkennen sei dies an Sätzen wie „Mir fällt die Decke auf den Kopf“ oder „Ich brauche Tapetenwechsel“. 

Um die
Situation zu entspannen, rät er dazu, mehr Natur in die eigenen vier Wände zu bringen. „Das können Naturmaterialien, Pflanzen, kleine Wasserbrunnen oder Bilder und Fotos mit Naturmotiven sein“, weiß der Experte. Auch Farben könnten diesen Zweck erfüllen. Ebenfalls problematisch sei angesichts beengter Wohnverhältnisse die fehlende soziale Regulation. Man könne nicht selbst bestimmen, wann man allein sein will und wann nicht. „Das führt zum Gefühl des Kontrollverlusts und zu einem Crowding-Gefühl“, meint der Psychologe. Die Folge seien auch da unter anderem innerer Rückzug und Gereiztheit. Als hilfreich bezeichnet er es, wenn jede Person im Haushalt über einen eigenen Rückzugsort verfügen kann. „Das muss kein eigenes Zimmer sein“, so der Experte. Auch Leseecken, ein Platz, um zu meditieren oder ein Schreibtisch könnten dazu dienen – idealerweise abgeschirmt durch Schiebeelemente, Paravents oder Ähnliches. „Oder man vereinbart mit den Mitbewohnern, dass man sich für eine bestimmte Zeit in einen Raum oder auf den heimelig gestalteten Balkon zurückziehen kann.“ 

Freiräume schaffen 

Andererseits mache die unfreiwillige soziale Isolation vielen zu schaffen. „Das gilt nicht nur für allein Lebende, sondern auch für Kinder, denen der erweiterte Lebensraum fehlt“, erklärt Deinsberger-Deinsweger, der den Mangel an Gemeinschaftsräumen bedauert. Sowohl ein Zuviel an Nähe als auch die soziale Isolation seien eine „äußerst ungesunde Entwicklung“, die Konflikte fördere und zu psychischen Störungen und Erkrankungen führe. Dem Bedürfnis nach Veränderung und Gestaltung nachzugeben sei daher wichtig. „Dieser Prozess an sich hat schon eine positive Wirkung auf die Gesundheit. Erstens schafft man damit ein stimulierendes Wohnumfeld und zweitens trägt er dazu bei, dass sich das Gefühl der Hilflosigkeit und Ohnmacht reduziert“, sagt der Psychologe. 

Nichts tun, nichts ändern zu können, seien ebenfalls Hauptauslöser für psychische Störungen. Architekten und Bauträgern empfiehlt er daher, bei künftigen Planungen mit Gemeinschaftsräumen und Außenflächen für entsprechende Rückzugsmöglichkeiten zu sorgen. Bei kleinen Wohnungen rät er zu Vielfalt und Flexibilität: Je flexibler die Gestaltungs- und Veränderungsmöglichkeiten etwa durch Licht oder die Möblierung seien, desto großzügiger würden die Räume wirken. 

Bild: (c) imago images/Westend61